EuGH soll Auskunftspflicht abhängiger Unternehmen bei Massenentlassung klären
Die Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG ist weitestgehend wortgenau im KSchG umgesetzt worden. Dennoch bestehen aufgrund variierender nationaler Verständnisse weiterhin Unsicherheiten in der Anwendung. Das LAG Berlin-Brandenburg hat nun dem EuGH gleich mehrere Fragen zur Klärung vorgelegt, die für die Praxis von großer Relevanz sind.
Sachverhalt
Gegenstand des Verfahrens vor dem LAG Berlin-Brandenburg ist die Wirksamkeit zweier betriebsbedingter Kündigungen im Rahmen einer Massenentlassung wegen Betriebsstilllegung.
Die Beklagte ist Teil einer Unternehmensgruppe und erbrachte die Fluggastabfertigung an den Berliner Flughäfen. Unter der Unternehmensgruppe sammeln sich zahlreiche miteinander verflochtene Unternehmen, die mit Dienstleistungen rund um den Flughafenbetrieb befasst sind.
Die Aufträge der Beklagten wurden innerhalb der Unternehmensgruppe gekündigt und auf andere Gesellschaften übertragen. Die Beklagte hat ihren Betrieb vollständig eingestellt und sämtlichen Mitarbeitern gekündigt.
Auf die ausgesprochene Massenkündigung monierte der Betriebsrat unzureichende Informationen über die externen Entscheidungen. Eine Beratung zur Vermeidung und Beschränkung der Entlassungen sei nicht möglich gewesen. Nach § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG ist eine Beratung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zur Vermeidung und Beschränkung der Entlassungen vorgesehen und durch § 17 Abs. 3a KSchG auf beherrschende Unternehmen erstreckt, wenn sie die der Massenentlassung zugrundeliegende Entscheidung getroffen haben.
Das LAG legt den Fall dem EuGH vor, da die Auslegung der Vorschriften unmittelbar auf die Wirksamkeit der Kündigung(en) umschlägt. Sollte dem vorgeschriebenen Verfahren nicht genügt sein, wäre die Massenkündigung wegen eines Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot gemäß §§ 134 BGB, 17 KSchG unwirksam.
Vorlagefragen
Das LAG Berlin-Brandenburg will beantwortet wissen,
- ob als beherrschende Unternehmen nur solche zu verstehen sind, die ihren Einfluss über Beteiligungen und Stimmrechte absichern, oder ob ein vertraglicher oder faktischer Einfluss genügt
- ob, falls auch ein vertraglicher oder faktischer Einfluss genügt, eine „Entscheidung über die Massenentlassung" auch dann vorliegt, wenn das beherrschende Unternehmen dem Arbeitgeber die Massenentlassungen mittelbar durch wirtschaftliche Vorgaben aufzwingt und
- ob, falls auch (b) zu bejahren ist, in solchen Fällen die Arbeitnehmervertretung auch über die betriebswirtschaftlichen oder sonstigen (Hinter-)Gründe, die mittelbar zur Massenentlassung geführt haben, zu informieren ist.
Weitere Vorlagefragen betreffen die Beweislast des Arbeitnehmers hinsichtlich des Konsultationsverfahrens.
Aussicht
Die Praxisrelevanz der Vorlage ist hoch. Über den Begriff des beherrschenden Unternehmens im Sinne des KSchG herrscht bisher Unklarheit. Ebenso bedeutsam ist die Frage, ob mittelbare Entscheidungen genügen. Ein weites Verständnis des Anwendungsbereichs durch den EuGH würde für die Praxis erhebliche Risiken im Rahmen von Umstrukturierungen des Personals auslösen. Die Beratung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat wäre fehleranfälliger und müsste entsprechend abgesichert werden. Es müsste sichergestellt werden, dass sämtliche, auch externe, Informationen strukturübergreifend „durchgereicht" werden, wenn nicht die Wirksamkeit der Kündigungen gefährdet werden soll. Schon die Frage, wer als mittelbarer Entscheidungsträger heranzuziehen ist, könnte regelmäßig Probleme bereiten.
Die Wirksamkeitsvoraussetzungen von Massenentlassungen waren häufig Gegenstand jüngerer Rechtsprechung. Wegen der sozialökonomischen Brisanz von Massenentlassungen ist ein Trend zur Erschwerung wirksamer Kündigungen zu beobachten. Das Pflichtenprogramm der Arbeitgeber wird dabei kontinuierlich erweitert. Auch in diesem Fall zeigt das Gericht wenig Bereitschaft, sich auf verflochtene Konstellationen einzulassen, sondern sucht den Weg in einer Ausdehnung und Ausdifferenzierung der Wirksamkeitshindernisse. Arbeitgeber sollten die Problematik schon jetzt vor Augen halten und etwaige Strukturmaßnahmen fachkundig absichern.
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