BAG bleibt seiner Linie treu
– Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess –
Rechtlicher Hintergrund
Grundsätzlich ist der Arbeitnehmer zur Arbeitsverrichtung in dem durch den Arbeitsvertrag näher bestimmten zeitlichen Umfang verpflichtet.
Wird über diesen zeitlichen Rahmen hinaus gearbeitet, so spricht man von Überstunden oder Mehrarbeit. Wie mit geleisteter Mehrarbeit in Bezug auf einen Ausgleich rechtlich umzugehen ist, wird häufig im Arbeitsvertrag mitgeregelt. Bis zu einem gewissen Maße – dies gilt insbesondere für Vergütungen im Rahmen der Beitragsbemessungsgrenze zur Rentenversicherung – ist die Abgeltung mit dem Grundgehalt denkbar. Üblich sind , sofern die Mehrarbeit nicht von der Vergütung erfasst ist, auch Ausgleich durch Freizeitgewährung oder Sondervergütung. Enthält der Arbeitsvertrag hierzu keine Regelung, so schuldet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer wegen der geleisteten Mehrarbeit regelmäßig Arbeitslohn in Höhe der üblichen Vergütung, §612 BGB.
Täglich werden tausende von Überstunden abgeleistet, häufig auch ohne Ausgleich. Gerade wenn das Arbeitsverhältnis endet oder geendet hat, machen viele Arbeitnehmer die Vergütung geleisteter Überstunden geltend, nachdem sie insoweit nicht mehr mit Benachteiligungen im Arbeitsverhältnis rechnen müssen. Ein Ausgleich durch Freizeitgewährung ist zu diesem Zeitpunkt in der Regel nicht mehr möglich. Arbeitgeber begegnen dem häufig mit dem Einwand, die geleistete Mehrarbeit sei durch sie nicht veranlasst worden und beruhe dementsprechend auf eigeninitiativem Handeln des Arbeitnehmers.
Kommt es im Streitfall zu einem gerichtlichen Prozess, ist insbesondere entscheidend, wer darzulegen und zu beweisen hat, dass die Überstunden geleistet und durch den Arbeitgeber veranlasst waren. Das BAG hat in seiner oben genannten Entscheidung hierzu erneut Stellung bezogen. Dabei hatte es die Bedeutung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu berücksichtigen, deren Einfluss das Arbeitsgericht Emden (Teilurteil vom 9. November 2020 – 2 Ca 399/18) in erster Instanz für maßgeblich hielt.
Sachverhalt
Vor dem Arbeitsgericht Emden hatte ein Auslieferungsfahrer auf eine Vergütung von rund EUR 5200 für knapp 350 Überstunden geklagt. Diese ergaben sich rechnerisch, weil der Arbeitgeber nur Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit erfasste, aber keine Pausen oder Ruhezeiten. Der Fahrer behauptete, er habe über einen Zeitraum von 18 Monaten gar keine Pausen nehmen können, weil er sonst seine Aufträge nicht hätte erfüllen können. Das beklagte Unternehmen hatte dies bestritten und die Zahlung der Überstunden verweigert.
Das ArbG Emden hatte den Arbeitgeber zur Zahlung verurteilt. In der Berufung hob das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen das Urteil überwiegend auf. Der Arbeitgeber musste nur für unstreitige 78 Stunden zahlen, die er als Überstunden anerkannt hatte (LAG Niedersachsen, 06.05.2021, 5 Sa 1292/20).
Das LAG argumentierte, selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstelle, er habe die von ihm behauptete Arbeitszeit tatsächlich geleistet, fehle es an Beweisen für eine Anordnung, betriebliche Notwendigkeit oder Duldung der Überstunden seitens des Arbeitgebers. Dass der Arbeitgeber die Pausenzeiten nicht separat erfasst habe, ändere nichts an der Beweislastverteilung im Überstundenprozess.
Die Entscheidung
Das BAG schloss sich der Beurteilung des LAG an und wies die Revision des Klägers zurück.
Die Richter in Erfurt sahen – anders als das ArbG Emden – im so genannten "Stechuhr-Urteil" des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) keinen Anlass, die bestehende Rechtsprechung bezüglich der Darlegungslast für Überstunden zu ändern. Im Jahre 2019 hatte der EuGH festgestellt, dass die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Arbeitgeber verpflichten müssen, die täglichen Arbeitszeiten und Pausen ihrer Beschäftigten systematisch zu erfassen (vom 14.5.2019 – C-55/18, Rechtssache „CCOO"). Das ergebe sich unmittelbar aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der EU-Arbeitszeitrichtlinie (2003/88/EG vom 4.11.2003). Es reicht – anders als im deutschen Arbeitszeitgesetz geregelt – nicht aus, lediglich Überstunden verzeichnen zu lassen. Hier sind durch den Gesetzgeber zur richtigen Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinien Veränderungen im Arbeitszeitgesetz vorzunehmen, die noch auf sich warten lassen.
Das ArbG Emden war der Ansicht, die positive Kenntnis von Überstunden als eine Voraussetzung für deren arbeitgeberseitige Veranlassung sei jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn der Arbeitgeber sich die Kenntnis durch Einführung, Überwachung und Kontrolle der Arbeitszeiterfassung hätte verschaffen können. Ausreichend für eine schlüssige Begründung der Klage sei daher nur, die Zahl der geleisteten Überstunden vorzutragen. Insoweit berief sich das Arbeitsgericht anhand der EuGH Rechtsprechung, die es – nach „Nicht-Aktivwerden" des Gesetzgebers – meinte umsetzen zu müssen.
Dem entgegneten LAG und BAG mit der Begründung, dass vom Erfordernis der Darlegung der arbeitgeberseitigen Veranlassung und Zurechnung von Überstunden durch den Arbeitnehmer auch nicht vor dem Hintergrund der genannten Entscheidung des EuGH abzurücken ist. Diese sei zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergangen. Nach gesicherter Rechtsprechung des EuGH beschränke sich diese Bestimmungen darauf, Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Sie fänden indes grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer. Die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit habe deshalb keine Auswirkung auf die nach deutschem materiellen und Prozessrecht entwickelten Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess.
Praxishinweis
Jedenfalls im Hinblick auf Überstundenvergütung relativiert die Entscheidung des BAG die Bedeutung des damals viel beachteten CCOO-Urteils.
Eine gesetzliche Verpflichtung zur systematischen Erfassung von Arbeitszeiten existiert nach deutschem Recht weiterhin nicht. In einer erst kürzlich ergangenen Entscheidung hatte das LAG Hamm (Urt. v. 27.07.2021 – 7 TaBV 79/20) Betriebsräten jedoch ein Initiativrecht bei der Einführung elektronischer Zeiterfassung zugebilligt (Lesen sie hierzu auch: DAS Bloth/Anders Initiativrecht Zeiterfassung). Es bleibt abzuwarten, wann und auf welche Weise die neue Bundesregierung europäische Arbeitszeitrichtlinie in deutsches Recht umsetzt, wobei dies aber auch nicht zu Veränderung der Deutungs- und Beweislast im Prozess um Ausgleich für Überstunden führen dürfte.
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