Massenentlassungsrichtlinie – Fragen über Fragen!
Weitergehende Vorlagefragen des BAG
Wenn ein Unternehmen Massenentlassungen plant, muss es die Arbeitsagentur hierüber gemäß § 17 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) informieren. Erst im Februar 2024 hatte der zweite Senat des BAG dem EuGH Vorlagefragen hinsichtlich der Rechtsfolgen einer unterbliebenen oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige unterbreitet.
An die Vorlagefragen des zweiten Senats anknüpfend möchte auch der sechste Senat des BAG (Az.: 6 AZR 152/22 (A)) nun weitergehende Fragen zur Massenentlassungsanzeige beantwortet wissen. Insbesondere fragte der sechste Senat des BAG den EuGH, was gelten soll, wenn der Arbeitgeber eine fehlerhafte Massenentlassungsanzeige an die Arbeitsagentur erteilt und die Arbeitsagentur diese nicht beanstandet. Schließlich könnte dieses Verhalten der Arbeitsagentur durchaus so verstanden werden, dass es sich auch durch die fehlerhafte Massenentlassungsanzeige für hinreichend informiert erachtet. Der Sinn und Zweck der Massenentlassungsanzeige an die Arbeitsagentur liegt nämlich darin, diese derart über die geplanten Entlassungen zu informieren, dass die Arbeitsagentur sich rechtzeitig auf bevorstehende Entlassungen größeren Umfang einstellen kann. Zudem soll der Arbeitsagentur die Möglichkeit eröffnet werden, frühzeitig Maßnahmen zur Vermeidung oder wenigstens zur Verzögerung von Belastungen des Arbeitsmarktes einzuleiten, indem sie für anderweitige Beschäftigungen oder für Umschulungen der zu Entlassenden sorgt.
Der Senat bittet auch um eine Stellungnahme dazu, ob im Fall einer fehlerhaften Massenentlassungsanzeige nach dem Zugang der Kündigung an den Arbeitnehmer noch eine Korrektur, Nachholung oder Ergänzung der Anzeige bei der Agentur für Arbeit möglich ist.
Klärung der Vorlagefrage des Obergerichts der Balearischen Inseln in Spanien durch den EuGH
Während das BAG noch auf klärende Antworten aus Luxemburg wartet, konnte eine Vorlage des Obergerichts der Balearischen Inseln in Spanien bereits durch ein Urteil des EuGH beantwortet werden. Die Vorlagefrage des Obergerichts betraf den maßgeblichen Zeitpunkt, zu dem ein Arbeitgeber die nach der Massenentlassungsrichtlinie vorgesehenen Konsultationspflichten gegenüber der Arbeitnehmervertretung erfüllen muss. Die Konsultationspflicht wurde in Deutschland in § 17 Abs. 2 KSchG umgesetzt und sieht eine Unterrichtung des Betriebsrates bei geplanten Massenentlassungen vor. Dieses Verfahren ist ein anderes als das im BetrVG geplante Verfahren zum Interessenausgleich und Sozialplan. Letzterer ersetzt nicht das Konsultationsverfahren.
In dem zugrunde liegenden Verfahren bei dem spanischen Obergericht hatten zwei Arbeitnehmer die gegen sie gerichtete Kündigung gerichtlich angegriffen, da sie der Auffassung waren, dass die Arbeitgeberin gemäß der Massenentlassungsrichtlinie die Arbeitnehmervertretung hätte konsultieren müssen.
Die beklagte Arbeitgeberin entschied, dass zum 1. Januar 2020 ein Teil der durch sie betriebenen Hotels auf eine Konzerngesellschaft übergehen soll. In der Folge dieser Entscheidung erkundigte sich die Beklagte sodann bei den Arbeitnehmern nach deren Bereitschaft, Gespräche mit dem Konzern über einen Wechsel zu führen. Ziel der Gespräche war die Besetzung von zehn Arbeitsplätzen, die der neue Betreiber der Hotels nach der Übernahme benötigen könnte. Neun Mitarbeiter schieden auf diesen Vorschlag hin freiwillig aus und schlossen Arbeitsverträge mit einer der Konzerngesellschaften. Gegenüber den beiden Klägern und sieben weiteren von insgesamt 32 der im Januar 2020 noch bei der Beklagten verbliebenen Mitarbeitern, sprach die Beklagte die Kündigung aus. Die Kläger machten in ihrer Klage geltend, die Beklagte habe ein Massenentlassungsverfahren einleiten müssen, da jedenfalls während der Restrukturierungsplanung die Möglichkeit bestanden habe, dass mehr als zehn Arbeitnehmer durch eine arbeitgeberseitige Kündigung entlassen werden. Die Beklagte vertrat die Auffassung, der Schwellenwert von zehn gekündigten Arbeitnehmern sei nicht erreicht, da die freiwillig ausgeschiedenen Mitarbeiter nicht mitzuzählen seien. Das Obergericht legte dem EuGH sodann die Frage zum Zeitpunkt des Entstehens der Konsultationspflicht nach der Massenentlassungsrichtlinie vor.
Der EuGH stellte nun in seinem Urteil Folgendes klar:
Die Konsultationspflicht des Arbeitgebers gegenüber der Arbeitnehmervertretung nach der Massenentlassungsrichtlinie entsteht mit der Entscheidung zur Kündigung von Arbeitsverhältnissen. Maßgeblich ist daher nach den Umständen des Einzelfalls auch bereits der Zeitpunkt, in dem eine strategische oder betriebswirtschaftliche Entscheidung getroffen wurde, die den Arbeitgeber zwingt, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen. Bereits die Anbahnung der Gespräche über die Übernahme der Hotels durch die Konzerngesellschaft markiere einen Zeitpunkt, in dem die Beklagte in Betracht ziehen musste, dass Entlassungen jenseits des Schwellenwertes von zehn Arbeitnehmern notwendig sein könnten. Schließlich sei der Beklagten klar gewesen, dass es in Folge der Übernahme der Hotels zu einem geminderten Bedarf ihrerseits und zu einem erhöhten Bedarf auf Seiten der übernehmenden Konzerngesellschaft kommen wird.
Damit setzt der EuGH sein Rechtsprechung fort, die er bereits in Verfahren in denen es um wirtschaftliche Entscheidungen von Unternehmen ging, die nicht unmittelbar auf die Beendigung von Arbeitsverhältnissen abzielten, sich aber doch auf die Anzahl beschäftigter Arbeitnehmer hätten auswirken können, gefestigt hatte.
Praxishinweis
Auch wenn der EuGH versucht, einen abstrakten Zeitpunkt für das Entstehen der Konsultationspflicht zu benennen, bleibt es für Arbeitgeber schwer, diesen Zeitpunkt selbst zu bestimmen. Einerseits darf eine Entscheidung über die Massenentlassungen noch nicht getroffen sein, andererseits müssen die Faktoren und Kriterien der potenziellen Massenentlassungen aber schon so konkret sein, dass eine Konsultation des – im Falle Deutschlands – Betriebsrats möglich ist. Die Konsultationspflicht nach dem deutschen KSchG sieht nämlich in § 17 Abs. 2 vor, dass der Arbeitnehmer dem Betriebsrat neben den Gründen für die geplanten Entlassungen auch bereits die Zahl, betroffenen Berufsgruppen sowie den Zeitraum der Entlassungen nennt. Außerdem sind die Auswahlkriterien für die zu entlassenden Arbeitnehmer und die Berechnungsgrundlagen etwaiger Abfindungen in der Mitteilung an den Betriebsrat zu benennen. In der deutschen Praxis steht zumeist das Verfahren zum Interessenausgleich und Sozialplan im Vordergrund. Das Konsultationsverfahren als solches wird zumindest ausdrücklich nicht betrieben. Es findet häufig im Interessensausgleich Erwähnung, dass es durchgeführt wurde. Es ist erwägenswert, dieses eigenständige Verfahren künftig gleich zu Beginn eines solchen Prozesses mehr Aufmerksamkeit zu schenken, es insbesondere ausdrücklich als solches zu adressieren.
Und es steht zu erwarten, dass aufgrund der Anfragen des BAG es zu weiteren Änderungen kommt.
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Jonas Anders, LL.M.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht
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