Nicht-EU Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Sachverhalt
Der Kläger ist bei der Beklagten seit 2002 als Lagerarbeiter beschäftigt und erhält ein durchschnittliches Bruttomonatsgehalt von EUR 3.612. In den Jahren 2017, 2019 und 2020 legte er der Beklagten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, die im direkten zeitlichen Zusammenhang mit seinem Urlaub standen. Vom 22. August bis zum 9. September 2022 hatte der Kläger Urlaub genommen, den er in Tunesien verbrachte. Am 7. September 2022 informierte er die Beklagte per E-Mail darüber, dass er bis zum 30. September 2022 krankgeschrieben sei. Er fügte ein Attest eines tunesischen Arztes vom selben Tag bei, das in französischer Sprache bestätigte, dass der Kläger an schweren Ischiasbeschwerden im engen Lendenwirbelsäulenkanal leide und bis zum 30. September 2022 strenge häusliche Ruhe benötige. Während dieser Zeit dürfe er sich weder bewegen noch reisen. Einen Tag nach dem Arztbesuch, am 8. September 2022, buchte der Kläger ein Fährticket für den 29. September 2022 und reiste an diesem Tag mit seinem Pkw zunächst mit der Fähre von Tunis nach Genua und dann weiter nach Deutschland zurück. Danach legte er der Beklagten eine Erstbescheinigung eines deutschen Arztes vom 4. Oktober 2022 vor, die seine Arbeitsunfähigkeit bis zum 8. Oktober 2022 bescheinigte.
Nachdem die Beklagte dem Kläger mitgeteilt hatte, dass das Attest vom 7. September 2022 ihrer Auffassung nach keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung darstelle, legte der Kläger eine erläuternde Bescheinigung des tunesischen Arztes vom 17. Oktober 2022 vor. Darin bestätigte der Arzt, den Kläger am 7. September 2022 untersucht zu haben und führte die Befunde sowie die Dauer der Arbeitsunfähigkeit entsprechend aus.
Die Beklagte lehnte die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab und kürzte die Vergütung für September 2022 um EUR 1.583,02. Mit Klage Zum Arbeitsgericht machte der Kläger ohne Erfolg die Entgeltfortzahlung für September 2022 geltend. Das Landesarbeitsgericht München (LAG) änderte das Urteil auf Berufung des Klägers ab und verurteilte die Beklagte zur Zahlung. Daraufhin legte die Be-klagte Revision zum BAG ein.
Entscheidung
Die Revision der Beklagten hatte Erfolg.
Das BAG stellte dabei fest, dass das LAG korrekt erkannt habe, dass einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich derselbe Beweiswert zukommt wie einer in Deutschland ausgestellten ärztlichen Bescheinigung.
Dies gelte jedenfalls, sofern ersichtlich sei, dass der ausländische Arzt zwischen einer einfachen Erkrankung und einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit unterschieden habe.
Das BAG beanstandete aber, dass das LAG bei der Würdigung der von der Beklagten zur Begründung ihrer Zweifel vorgetragenen Umstände jeden Aspekt isoliert betrachtet und die rechtlich gebotene Gesamtwürdigung unterlassen habe. Dabei sei zu berücksichtigen, dass der tunesische Arzt dem Kläger für 24 Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigt habe, ohne eine Wiedervorstellung anzuordnen. Zudem habe der Kläger bereits einen Tag nach der im Attest ausgewiesenen Notwendigkeit häuslicher Ruhe und des Verbots, sich bis zum 30. September 2022 zu bewegen und zu reisen, ein Fährticket für den 29. September 2022 gebucht und an diesem Tag die lange Rückreise nach Deutschland angetreten. Auch zu berücksichtigen sei die Tatsache, dass der Kläger in den Jahren 2017 bis 2020 dreimal unmittelbar nach einem Urlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt hatte.
Das BAG betonte, dass all diese Gegebenheiten – wie das LAG annahm – für sich betrachtet zwar unverfänglich sein mögen. In einer Gesamtschau begründeten sie jedoch ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Bescheinigung. Daraus folge, dass nunmehr der Kläger die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG trage. Da das LAG hierzu keine Feststellungen getroffen hatte, hat das BAG die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.
Ausblick/Praxishinweis
Aufgrund der vielen „Ungereimtheiten“ der hier in Frage stehenden Arbeitsunfähigkeit musste das BAG berechtigterweise eine Ausnahme von dem hohen Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung machen, welcher in seiner Rechtsprechung den Grundsatz bildet. Dieser gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Dabei betont das BAG erneut die grundsätzliche Gleichwertigkeit von ausländischen und deutschen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, sofern eben bestimmte Voraussetzungen vorliegen. Es muss gerade Arbeitsunfähigkeit, nicht nur Krankheit bestätigt werden.
Diese Entscheidung bietet Arbeitgebern jedoch klare Leitlinien für den Umgang mit zweifelhaften ausländischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen. Sie müssen ihre Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Bescheinigung durch detaillierten Vortrag aller Umstände begründen, welche sie am Schluss in einer umfassenden Gesamtbetrachtung darstellen müssen. Diese können formelle Fehler der Bescheinigung sein aber auch sonstige Umstände, wie etwa widersprüchliches Verhalten des Arbeitnehmers wie hier zum Beispiel die Buchung der aufwändigen Rückreise von Tunesien nach Deutschland bzw. das Verhalten des Arbeitnehmers in der Vergangenheit. Damit kann der Arbeitgeber den Beweiswert der ärztlichen Bescheinigung hinreichend erschüttern. Dann greift zu Ungunsten des Arbeitnehmers die allgemeine Regel, dass vor Gericht jede Partei die für sie günstigen Umstände konkret vortragen und ggf. beweisen muss. Für den Arbeitnehmer bedeutet das, dass ein erheblich aufwändigerer Vortrag zum Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit erforderlich ist.
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