Berlin oder Stuttgart...? Egal, Hauptsache wir sind eins!
Betriebsratswahlen sind immer Zeichen erhöhter Anspannung, da gerade hier der Grundstein für die betriebliche Verfassung der kommenden vier Jahre gelegt wird. Dies bezieht sich nicht nur auf die Personen der Betriebsräte, sondern auch auf Größe und Verfassung des Gremiums. So kann es sein, dass räumlich entfernt liegende Betriebsteile in einem Stammbetrieb mit einbezogen werden, so dass Gremien ein anderes Gesicht bekommen als wenn getrennt gewählt würde.
Eine falsche Einschätzung der Frage, ob in den einzelnen Betriebsteilen eigene Betriebsratsgremien zu wählen sind oder nicht, kann folgenschwer sein, sogar eine ganze Wahl hinfällig machen - was auch Daimler-Benz zuletzt zu spüren bekam.
Sachverhalt
Im März 2018 waren zur Wahl des Betriebsrats in der Zentrale von Daimler in Stuttgart nicht nur die 17.000 wahlberechtigten Mitarbeiter in Stuttgart selbst aufgerufen sondern auch die Mitarbeiter in der Repräsentanz im gut 600 km entfernten Berlin sowie diejenigen in der gut 100 km entfernten badischen Gemeinde Gernsbach. Die Zahl der wahlberechtigten Mitarbeiter belief sich in Berlin und Gernsbach auf 36. Daimler-Beschäftigte fochten die Wahl an, da man Unstimmigkeiten vermutete.
Das AG Stuttgart erklärte die Wahl mit Beschluss vom 25. April 2019 (21 BV 62/18) für unwirksam, da der Betriebsbegriff verkannt worden sei und somit ein wesentlicher Verstoß gegen Wahlvorschriften des BetrVG vorliege. Bei den räumlich weit entfernten Betriebsteilen in Berlin und Gernsbach sei keine effektive Betreuung der Mitarbeiter durch den Betriebsrat in Stuttgart möglich. Die beiden betriebsratsfähigen Betriebsteile hätten entweder selbst eine Arbeitnehmervertretung wählen- oder vor der Wahl beschließen müssen, an der Betriebsratswahl in der Zentrale teilnehmen zu wollen. Daimler argumentierte dagegen, dass sich die Mitarbeiter in Berlin und Gernsbach seit jeher der Zentrale zugehörig gefühlt hätten. Ein entsprechender Beschluss der Mitarbeiter lag jedoch nicht vor.
Hintergrund
Maßgeblich in diesem Zusammenhang sind die Bestimmungen des § 4 BetrVG, in dem es u.a. um die Selbständigkeit und Betriebsratsfähigkeit von Betriebsteilen geht. Betriebsteile gelten als selbständige Betriebe, wenn bei ihnen in der Regel mindestens fünf ständig wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt sind, von denen drei wählbar sind und entweder räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt – oder durch Aufgabenbereich und Organisation eigenständig sind. Sind diese Kriterien erfüllt, ist entweder ein eigener Betriebsrat zu wählen oder die betroffenen Mitarbeiter verzichten per Beschluss auf eine solche Wahl und nehmen an der Wahl im Hauptbetrieb teil.
Maßgeblich dafür, wann ein Betriebsteil „räumlich weit vom Hauptbetrieb entfernt" ist, ist die Frage, inwiefern durch eine räumliche Entfernung eine ortsnahe Interessenvertretung der Arbeitnehmer des Betriebsteils gewährleistet ist. Kann eine sachgerechte Vertretung aufgrund der Distanz nicht erwartet werden, ist das Merkmal erfüllt. Maßgeblich ist stets eine Gesamtwürdigung aller Umstände, wobei z.B. die Verkehrsanbindung und somit die physische Erreichbarkeit des Betriebsteils eine wesentliche Rolle spielt. Der Erreichbarkeit per Videokonferenz oder Skype wies das Gericht jedoch nur eine untergeordnete Rolle zu. Auch der Größenunterschied in Bezug auf die Anzahl der Mitarbeiter fiel bei der Abwägung nicht ins Gewicht.
Das Merkmal der Eigenständigkeit in Aufgabenbereich und Organisation ist erfüllt, wenn ein vom Hauptbetrieb abweichender, gesonderter Zweck verfolgt wird und in dem Betriebsteil wesentlich Arbeitgeberfunktionen ausgeübt werden.
Praxishinweise
Es handelt sich um eine in der betrieblichen Praxis stets wiederkehrende Problematik, mit der man sich nicht nur im Rahmen von Betriebsratswahlen sondern auch bei Betriebsänderungen auseinandersetzen muss. In der Entscheidung z.B. über die Neustrukturierung von Leitungsfunktionen oder die Etablierung eines neuen Standorts liegt – meist unbeabsichtigt – auch eine Entscheidung über eine mögliche Neuausrichtung der Arbeitnehmervertretungen. Eine falsche Einschätzung in Bezug auf die Selbständigkeit der Betriebsteile kann gravierende Folgen haben, wie der Beschluss zeigt. Ein „haben wir schon immer so gemacht" zählt nicht! Das Gericht betonte, dass eine jahrelange falsche Handhabung nicht dazu führe, dass ein Betrieb nun zum Hauptbetrieb zu zählen ist. Insofern ist eine intensiven Würdigung der Gesamtumstände in jedem Einzelfall essentiell.
Der Beschluss ist noch nicht rechtskräftig. Abzuwarten bleibt, ob Daimler in die nächste Instanz geht. Sollte Rechtskraft eintreten, „zerbricht" jedenfalls die derzeitige „Konstruktion" und es käme zu vorgezogenen Neuwahlen in diesem Unternehmen.
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