BAG: Integrationsamt und Kündigungsschutzprozess -
Zwei Verfahren - Zwei Entscheidungen
Zwei Verfahren - Zwei Entscheidungen
Rechtlicher Hintergrund
Schwerbehinderte und solchen gleichgestellte Menschen können gemäß §168 des neunten Sozialgesetzbuches (SGB IX) nur mit vorheriger Zustimmung des Integrationsamtes gekündigt werden. Ohne Zustimmung verstößt die Kündigung gegen ein Gesetz und ist daher unwirksam (§134 BGB).
Auf Antrag des Arbeitgebers trifft das zuständige Integrationsamt eine Entscheidung über die Zustimmung bzw. Nichtzustimmung zur Kündigung. Diese Entscheidung ist ein behördlicher Verwaltungsakt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer können, falls sie nicht einverstanden sind, dagegen Widerspruch einlegen und, falls die Entscheidung in Form eines Widerspruchsbescheids aufrechterhalten wird, Anfechtungsklage vor dem zuständigen Gericht erheben. Diese Rechtsbehelfe entfalten dabei jedoch keine aufschiebende Wirkung, sodass eine ggf. erteilte Zustimmung zur Kündigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verwaltungsverfahrens als erteilt gilt (§ 171 Abs. 4 SGB IX).
Will der Arbeitgeber außerordentlich kündigen, gelten kurze Fristen: Der Antrag auf Zustimmung kann nur innerhalb von zwei Wochen beantragt werden, gerechnet ab dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber die für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erfährt (§ 171 Abs. 2 SGB IX). Auch das Integrationsamt muss sich beeilen und seine Entscheidung binnen zwei Wochen treffen, gerechnet vom Eingang des Antrages an. Trifft das Amt binnen zwei Wochen keine Entscheidung, gilt die Zustimmung als erteilt (§ 171 Abs. 3 Satz 2 SGB IX).
Sachverhalt
Die einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Klägerin arbeitete seit 2002 bei der Beklagten. Diese beantragte am 23. August 2018 die Zustimmung des Integrationsamts zur beabsichtigten fristlosen Kündigung und (vorsorglichen) außerordentlichen Kündigung mit Auslauffrist. Das Integrationsamt eröffnete der Beklagten am 7. September 2018, dass wegen Fristablaufs nach § 174 III SGB IX die Zustimmung als erteilt gelte. Diese kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis der Parteien mit zwei Schreiben vom 10. September 2018 unter Berufung auf verhaltensbedingte Gründe außerordentlich fristlos sowie vorsorglich mit Auslauffrist zum 31. März 2019. Die Klägerin legte gegen die Zustimmung des Integrationsamts Widerspruch ein. Mit Bescheid vom 21. Februar 2019 hob das Integrationsamt den „Bescheid" vom 7. September 2018 auf und versagte die Zustimmung zu den Kündigungen, da die Beklagte die Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX nicht eingehalten habe.
Auf die von der Klägerin erhobene Kündigungsschutzklage gaben das Arbeitsgericht Frankfurt am Main (Urteil vom 12. März 2019, 5 Ca 6363/18) und das Hessische Landesarbeitsgericht der Klägerin Recht (Urteil vom 16. Oktober 2020, 8 Sa 450/19). Nach Ansicht des LAG hatte der Arbeitgeber - aufgrund der nachträglichen Abänderung der Zustimmungsentscheidung - ohne die erforderliche Zustimmung des Integrationsamtes gekündigt, weswegen die Kündigung rechtswidrig gewesen sei.
Entscheidung des BAG
Das BAG sah dies anders und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurück.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts spiele es keine Rolle, dass das Integrationsamt auf den Widerspruch der Klägerin mit Abhilfebescheid den Ausgangsbescheid aufgehoben und die Zustimmung zu den außerordentlichen Kündigungen versagt habe, da der Abhilfebescheid zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem BAG noch nicht rechtskräftig gewesen sei.
Liege eine Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung vor, haben die Arbeitsgerichte dies ihren Entscheidungen – verbindlich – zugrunde zu legen. Das gelte sowohl für ausdrückliche Entscheidungen des Integrationsamts nach § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX als auch für die Zustimmungsfiktion des § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX.
Gemäß § 171 Abs. 4 SGB IX hätten Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des Integrationsamts keine aufschiebende Wirkung. Die einmal erteilte Zustimmung entfalte – vorbehaltlich ihrer Nichtigkeit – so lange Wirksamkeit, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben sei. Dies habe das LAG nicht beachtet. Die Beklagte könne sich nach § 171 Abs. 4 SGB IX bis zu einer bestands- bzw. rechtskräftigen Aufhebung der durch Fristablauf eingetretenen Zustimmung des Integrationsamts auf diese berufen. Die Arbeitsgerichte seien an diese Entscheidung gebunden. Wenn später die Zustimmung endgültig aufgehoben sei, auch nach Rechtskraft einer die Kündigungsschutzklage abweisenden Entscheidung, könne der Arbeitnehmer Restriktionsklage erheben.
Praxishinweis
Das BAG bestätigt mit dieser Entscheidung seine bisherige Linie zum Zusammenspiel zwischen Verwaltungs- und Kündigungsschutzverfahren. Für Arbeitgeber bedeutet dies mehr Rechtssicherheit, da der Arbeitgeber auf der Grundlage eines Zustimmungsbescheids zur Kündigung berechtigt bleibt, auch wenn die Zustimmung später von der Widerspruchsbehörde oder einem Gericht aufgehoben wird, solange die aufhebende Entscheidung nicht ihrerseits bestands- bzw. rechtskräftig ist. Die Entscheidung ist deswegen besonders „lehrreich", weil diese Fallkonstellation in der Praxis immer wieder vorkommt. Da aber Verwaltungsverfahren in der Regel lange dauern, schwebt über dem Kündigungsprozess gleichwohl ein „Damoklesschwert", was Arbeitgeber alleine wegen des Zeitraums bis zu einer Entscheidung zum Vergleich „zwingt".
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