Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen I
Einführung
Arbeitnehmer haben nach § 3 Abs. 1 EFZG im Krankheitsfall Anspruch auf Entgeltfortzahlung für die Dauer von sechs Wochen, wenn sie infolge Krankheit ohne Verschulden an der Erbringung ihrer Arbeitsleistung verhindert sind. Der hierfür durch den Arbeitnehmer im Streitfall zu erbringende Beweis gelingt in der Regel durch Vorlage einer AU-Bescheinigung. Der hohe Beweiswert dieser kann aber unter bestimmten Umständen erschüttert werden, wie das hier besprochene Urteil des LAG Mecklenburg Vorpommern (und im weiteren Beitrag des LAG Schleswig Holstein) zeigen. Arbeitgeber haben in gewissen Konstellationen – wie dieser – Zweifel an einer zu einer Gehaltsfortzahlung berechtigenden Arbeitsunfähigkeit.
Sachverhalt
Mit Schreiben vom 29. Oktober 2021 kündigte der Kläger zum 30. November 2021 das Arbeitsverhältnis gegenüber der Beklagten und bat um Zusendung eines Zeugnisses und der Arbeitspapiere an die im Arbeitsvertrag der Parteien angegebenen Anschrift. Für den Zeitraum vom 3. November 2021 bis 30. November 2021 reichte der Kläger zwei AU-Bescheinigungen ein.
Die Beklagte zweifelte die Arbeitsunfähigkeit des Klägers an und behauptete, sie stünde in direktem Zusammenhang mit der Kündigung. Sie verweigerte die Zahlung des Entgelts. Dafür spräche auch der Gleichlauf mit der Kündigungsfrist. Der Kläger habe bereits mit der Kündigung um Übersendung von Arbeitszeugnis und -papieren gebeten und diese an eine von seinem Wohnort abweichende Meldeadresse senden lassen. Zudem habe man weder im Spind noch in den anderen Räumlichkeiten des Betriebs private Gegenstände des Klägers finden können. Dies zeige, dass der Kläger nicht beabsichtigt habe, vor Ende der Kündigungsfrist an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren.
Der Kläger trug vor, am 1. und 2. November 2021 noch zur Arbeit erschienen zu sein. Am 3. November 2023 sei bei ihm eine ansteckende Magen-Darm-Erkrankung diagnostiziert worden. Aufgrund dieser war er durch Erst- und Folgebescheinigung von seiner Ärztin bis einschließlich zum 30. November 2023 krankgeschrieben. Der hinzugezogene Medizinische Dienst hatte die Diagnose der Ärztin im Wesentlichen bestätigt.
Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung für den Zeitraum vom 3. bis 30. November 2021.
Die Vorinstanz, das Arbeitsgericht Schwerin, gab der Klage auf Vergütung statt. Hiergegen legte die Beklagte Berufung ein.
Entscheidung
Das LAG bestätigte das Urteil des Arbeitsgericht Schwerin und wies die Berufung der Beklagten zurück. Es stellte fest, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im vorliegenden Fall nicht wegen Gleichlaufs von verbleibender Dauer des Arbeitsverhältnisses und der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit erschüttert sei, da der Kläger nach Zugang der Kündigung noch Arbeitsleistungen erbracht habe. Ein Fall einer solchen „Passgenauigkeit“ liege nur vor, wenn die AU-Bescheinigung auf den Tag genau die Dauer zwischen Kündigung und Ende der Kündigungsfrist decke. Die Bitte um Übersendung der Arbeitspapiere an die Meldeadresse des Klägers, nicht die Zweitanschrift, stelle ferner kein Indiz dar, welches das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit in Frage stellen würde. Dies sei vielmehr denkbar, da der Kläger nicht wissen könne, ob er zu dem Zeitpunkt der Zusendung durch die Beklagte noch unter seiner Zweitanschrift erreichbar sein würde. Soweit die Beklagte sich auf die Entfernung privater Gegenstände aus dem Betrieb vor Ablauf der Kündigungsfrist beruft, verweist das LAG darauf, dass dies zwar grundsätzlich als Beweis geeignet sei, um darzulegen, dass der Arbeitnehmer keinerlei Arbeitsleistung mehr erbringen wolle. Dafür müsste der Arbeitgeber jedoch genau darlegen können, welche privaten Gegenstände der Arbeitnehmer üblicherweise im Betrieb aufbewahrt habe. Eine pauschale Behauptung, dass es an privaten Gegenständen im Betrieb fehle, sei nicht geeignet den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern.
Praxishinweis
In gekündigten Arbeitsverhältnissen kommt es immer wieder vor, dass Arbeitnehmer über einen beträchtlichen Zeitraum – oder sogar während der gesamten Kündigungsfrist – krankgeschrieben werden. Zieht man als Arbeitgeber in Betracht, dass es für viele Arbeitnehmer nicht schwierig erscheint, sich eine ärztliche AU-Bescheinigung ausstellen zu lassen, stellt sich in solchen Situationen die Frage nach einer geeigneten Reaktion.
Das Urteil zeigt, dass zwar grundsätzlich Umstände vorliegen können, die den hohen Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttern können, es dabei allerdings immer auf die Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls ankommt. Das entscheidende Merkmal für die Annahme ernsthafter Zweifel ist in dem Zusammenhang das der „Passgenauigkeit“. Für den Fall der Passgenauigkeit von Kündigungszeitraum Arbeitsunfähigkeit ist eine Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung wohl immer dann anzunehmen, wenn noch weitere Indizien hinzukommen, die den Verdacht, dass tatsächlich keine Arbeitsunfähigkeit vorliegt, stützen.
Ein Fall der „Passgenauigkeit“ soll nach Ansicht des LAG jedoch nur vorliegen, wenn die AU-Bescheinigung auf den Tag genau den Zeitraum von Kündigung bis Ende des Vertragsverhältnisses deckt. Dieses Erfordernis ist wohl nicht erfüllt, wenn der Arbeitnehmer auch nur für wenige Tage seine Arbeitsleistung erbringt. Einer Passgenauigkeit steht es indes nicht entgegen, wenn mehrere AU-Bescheinigungen vorgelegt werden.
Diese Beurteilung des Gerichts erscheint diskussionswürdig, wenn es sich hier um wenige Tage handelt, die „nicht passen“, dazu die Arbeitsunfähigkeit bis zum letzten Tag des Arbeitsverhältnisses andauert und persönlichen Gegenstände des Arbeitnehmers bereits fehlen. Weswegen es hier darauf ankommen soll, dass der Arbeitgeber konkrete Gegenstände benennt, erschließt sich nicht.
Arbeitgeber sind jedenfalls gut beraten, die Umstände des Einzelfalls genau zu prüfen, bevor sie sich in einen Lohnstreit mit dem Mitarbeiter begeben und sich dem Risiko einer Zahlungsklage aussetzen, aber sollten auch nicht von vornherein jeder AU-Bescheinigung, gerade zum Ende des Arbeitsverhältnisses, Glauben schenken.
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