Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen II
Sachverhalt
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Entgeltfortzahlung für die Zeiträume vom 5. Mai bis 31. Mai 2022 und vom 1. Juni bis 15. Juni 2022. Die Klägerin war seit 2019 als Pflegeassistentin bei der Beklagten beschäftigt. Mit wie folgt lautendem Schreiben vom 4. Mai 2022 kündigte sie das Arbeitsverhältnis am 11. Mai 2022 fristgerecht zum 15. Juni 2022:
„(…) hiermit kündige ich (…) ordentlich und fristgerecht zum 15.6.2022. Nach meiner Rechnung stehen mir noch elf Tage Urlaub von diesem Jahr zu und noch sechs Tage von letztem Jahr. Hiermit beantrage ich Urlaub vom 1.6.2022–15.6.2022 (elf Tage). Die restlichen Urlaubstage verrechnen Sie bitte mit meiner letzten Gehaltsabrechnung. Bitte senden Sie mir eine Bestätigung des Erhalts dieses Briefs, meine Arbeitspapiere sowie ein qualifiziertes Arbeitszeugnis an die oben aufgeführte Adresse. Ich bedanke mich für die bisherige Zusammenarbeit und wünsche ihren Unternehmen alles Gute.“
Die Klägerin reichte eine AU-Bescheinigung vom 5. Mai 2022 bis 11. Mai 2022 ein, der insgesamt vier Folgebescheinigungen folgten, die die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin nahtlos bis 15. Juni attestierten. Die Klägerin behauptete, aufgrund von Magenschmerzen und psychisch bedingter arbeitsplatzspezifischer Belastung arbeitsunfähig gewesen zu sein. Die Beklagte bestritt die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin. Diese habe sich „passgenau“ bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses krankschreiben lassen und habe nicht vorgehabt, vor Ablauf der Kündigungsfrist in den Betrieb zurückzukehren. Dies ergebe sich auch aus der Formulierung der Kündigung.
Das Arbeitsgericht Lübeck gab der Klage überwiegend statt. Hiergegen richtete sich die Beklagte mit der Berufung. Das Berufungsgericht vernahm den Arzt der Klägerin in der mündlichen Verhandlung.
Entscheidung
Das LAG gab der Berufung statt und stellte fest, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung für die Zeiträume vom 5. Mai bis 31. Mai 2022 und vom 1. Juni bis 15. Juni 2022 habe. Zwar werde der für die Entgeltfortzahlung erforderliche Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit in der Regel durch die Vorlage einer AU-Bescheinigung geführt. Diesen Beweiswert könne der Arbeitgeber jedoch dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Falle des Bestreitens beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben. Im vorliegenden Fall habe die passgenaue Krankschreibung der Klägerin in Verbindung mit dem Inhalt des Kündigungsschreibens den Beweiswert der AU-Bescheinigungen erschüttert. Maßgeblich sei für diese Bewertung dabei gewesen, dass die Klägerin zusammen mit der Kündigung Urlaub beantragt habe, um Verrechnung der übrigen Urlaubstage mit der Gehaltsabrechnung und um Übersendung der Arbeitspapiere und der Kündigungsbestätigung gebeten habe. Zu diesen Umständen trat zudem die Schlussformel des Schreibens hinzu, mit der die Klägerin sich für die Zusammenarbeit bedankte und dem Unternehmen alles Gute für die Zukunft wünschte. Die Gesamtschau dieser Umstände lasse den Schluss zu, dass die Klägerin bereits am 5. Mai 2022 nicht beabsichtigt habe, vor Ende der Kündigungsfrist an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Der Beklagten sei es somit gelungen, den Beweiswert der AU-Bescheinigung zu erschüttern. In der Folge sei es an der Klägerin gewesen, Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, welche das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit glaubhaft machen. Der zu diesem Zweck von seiner Schweigepflicht durch die Klägerin entbundene Arzt schilderte, die Klägerin habe bei ihrem ersten Besuch über Magenschmerzen geklagt. Er sei von einem Magen-Darm-Infekt ausgegangen, eine Untersuchung habe jedoch nicht stattgefunden. Am 12. Mai 2022 sei mit der Klägerin über das Vorliegen einer psychosomatischen Erkrankung gesprochen worden, da diese dem Arzt berichtet hatte, von der Pflegedienstleitung per WhatsApp unter Druck gesetzt worden zu sein. Auf Rat des Arztes das Gespräch zu suchen, erwiderte diese, kündigen zu wollen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie jedoch die Kündigung bereits verfasst und abgegeben. Den vorgelegten Nachrichten konnte das Gericht ferner kein Unterdrucksetzen entnehmen. Es gelangte zu der Überzeugung, dass die Klägerin nicht arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei. Unter Gesamtschau dieser Umstände gelangte die Kammer zu der Feststellung, dass die Klägerin ihrem Arzt gegenüber Beschwerden vortrug, die tatsächlich nicht bestanden und sie nicht durch Krankheit an der Erbringung ihrer Arbeitsleistung verhindert gewesen sei.
Rechtliche Einordnung/ Praxishinweis
Das Urteil liegt auf einer Linie mit der Rechtsprechung des BAG (z. B. Urteil v. 8. September 2021, Az. 5 AZR 149/21) zur Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung bei „Passgenauigkeit“ von Dauer der Arbeitsunfähigkeit und verbleibender Dauer des Arbeitsverhältnissen. Wie der Blick auf das in diesem Newsletter ebenfalls besprochene Urteil des LAG Mecklenburg Vorpommern vom 21. März 2023 (Az. 2 Sa 156/22) zeigt, kommt es immer auf die Gesamtschau der Umstände des Einzelfalls an. Im Gegensatz zu dem dort vorliegenden Fall, in dem das Gericht das Vorliegen einer Passgenauigkeit verneinte, war diese im hiesigen Fall gegeben. Daneben liegen weitere Umstände – insbesondere Formulierung der Kündigung – vor, deren Gesamtschau den Beweiswert der AU-Bescheinigungen erschüttert hat. Auch der Umstand, dass es sich um mehrere Folgebescheinigungen handelte, stand dieser Wertung nicht entgegen. Die Klägerin konnte nach Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigungen keine Tatsachen darlegen und beweisen, die eine Arbeitsunfähigkeit glaubhaft machen konnten.
Betrachtet man die Rechtsprechung des BAG, lassen diese den Schluss zu, dass zumindest bei Eigenkündigungen dem Vorliegen einer passgenauen AU-Bescheinigung für die Dauer der verbleibenden Vertragslaufzeit eine besonders hohe Indizienwirkung zukommt. Es bleibt abzuwarten, ob ähnliche Schlüsse auch in Fällen, in denen eine Krankschreibung auf unerwünschte Weisungen oder Abmahnungen durch den Arbeitgeber folgt, gezogen werden können.
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