Massenentlassung: Änderung der Rechtsprechung? Warten auf den EuGH!
Sachverhalt
Die Parteien streiten sich über die Auflösung eines Arbeitsverhältnisses durch eine ordentliche Kündigung, die ohne Erstattung der erforderlichen Massenentlassungsanzeige ausgesprochen wurde. Eine Nachholung fand ebenfalls nicht statt. Macht dies sämtliche in diesem Zusammenhang ausgesprochenen Kündigungen unwirksam? Diese Rechtsfolge lässt Fehler in einer Anzeige zum „Pulverfass“ werden, sind von einem Fehler doch typischerweise zahlreiche Kündigungen erfasst.
Bisher nahm der 2. Senat des BAG an, dass eine fehlende Massenentlassungsanzeige zur Nichtigkeit der Kündigung nach § 134 BGB führt.
Dieses Sanktionsregime hält der 6. Senat des BAG nun für unverhältnismäßig und für nicht im Einklang mit der Massenentlassungs-Richtlinie 98/59/ EG (MERL) stehend. Der 6. Senat möchte in Zukunft annehmen, dass das Fehlen oder die Fehlerhaftigkeit einer Massenentlassungsanzeige keinen rechtlichen Einfluss auf die Entscheidung über die Beendigung eines gekündigten Arbeitsverhältnisses hat. Der 6. Senat ist vielmehr der Auffassung, dass der Gesetzgeber Sanktionen für Fehler bei der Massenentlassungsanzeige regeln müsse. Nach seiner Ansicht soll die Anzeigepflicht die Tätigkeit der Arbeitsverwaltung absichern, aber anders als die nach §17 ebenfalls vorgesehene Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats keine Kündigungen vermeiden. Deswegen wurde der 2. Senat angefragt, ob er weiterhin an seiner Rechtsauffassung festhalten möchte. Der 6. Senat wollte hier eine Kündigungsschutzklage an sich abweisen, wenn nicht das Fehlen der Massenentlassungsanzeige die Unwirksamkeit der Kündigung begründete.
Der 2. Senat sieht sich nicht imstande die Anfrage des 6. Senats zu beantworten, ohne ein vorheriges Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH durchzuführen, und beschloss daher, dem EuGH diese Frage vorzulegen (Beschluss vom 1.2.2024 – 2 AS 22/23 (A)).
Entscheidung des BAG
Der 2. Senat schließt nicht aus, dass die Rechtsfolge der Unwirksamkeit unverhältnismäßig sei, wenn eine Kündigung ohne ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige erfolgte. Jedoch stellt er noch einige Auslegungsfragen zur Massenentlassungsrichtlinie, die für § 17 KSchG Bedeutung haben.
Konkret möchte der 2. Senat des BAG vom EuGH wissen:
- Ist die Massenentlassungsrichtline dahingehend auszulegen, dass eine Kündigung im Rahmen einer anzeigepflichtigen Massenentlassung das Arbeitsverhältnis eines betroffenen Arbeitnehmers erst beenden kann, wenn die Entlassungssperre abgelaufen ist?
- Wenn ja, setzt das Ablaufen der Entlassungssperre eine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige voraus?
- Kann der Arbeitgeber, der anzeigepflichtige Kündigungen ohne (ordnungsgemäße) Massenentlassungsanzeige ausgesprochen hat, die Massenentlassungsanzeige nachholen – mit der Folge, dass nach Ablaufen der Entlassungssperre die Arbeitsverhältnisse der betreffenden Arbeitnehmer durch die bereits zuvor erklärten Kündigungen beendet werden können?
- Kann es der zuständigen Behörde überlassen werden, bindend festzustellen, wann die Entlassungssperre im konkreten Fall abläuft, oder muss dem Arbeitnehmer zwingend ein gerichtliches Verfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der behördlichen Feststellung eröffnet sein?
Aus der Begründung des 2. Senats für die Fragen ergibt sich, dass er in seiner Rechtsauffassung großen Wert auf eine Differenzierung legt, ob die Massenentlassungsanzeige gänzlich fehlte oder nur fehlerhaft war. Bei vollständigem Fehlen der Massenentlassungsanzeige soll die Wirkung der Kündigung erst eintreten, wenn die Massenentlassungsanzeige nachgeholt wurde und die Agentur für Arbeit die nötige Vorbereitungszeit nach § 18 Abs. 1 und Abs. 2 KSchG hatte (sog. Entlassungssperre). Bis zum Ablauf der Entlassungssperre soll das Arbeitsverhältnis mit den bisherigen Rechten und Pflichten fortbestehen. Die vereinbarte Vergütung soll fortgezahlt werden, auch wenn der Arbeitnehmer nicht beschäftigt wird. Dies sollte selbst dann gelten, wenn das Arbeitsverhältnis aufgrund einer kürzeren Kündigungsfrist bereits zu einem früheren Zeitpunkt hätte enden können.
Bei lediglich fehlerhaft erstatteter Massenentlassungsanzeige scheint der 2. Senat die Unwirksamkeit der Kündigung für unverhältnismäßig zu halten. Die Agentur für Arbeit prüft nämlich hier schon auf Vollständigkeit und kann daher den Ablauf der Entlassungssperre an einem konkreten Datum festlegen. Die Nichtigkeit der Kündigung müsse dann nicht notwendige Folgen der fehlerhaften Anzeige sein.
Ausblick
Wann eine Entscheidung durch den EuGH zu erwarten ist, lässt sich nicht absehen. Bis zur Klärung der Rechtsfrage, ist bei der Erstattung von Massenentlassungsanzeigen nach wie vor Sorgfalt geboten, da an sich noch das Risiko besteht, dass Kündigungen wegen Fehlen der Anzeige als nichtig gelten könnten. Eine Rechtsprechungsänderung wäre für Arbeitgeber jedoch von erheblichem Vorteil, da gerade mehrere Kündigungen nicht wegen eventueller und kleinerer Fehler nichtig sein würden.
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