Benachteiligung von Teilzeitbeschäftigten bei Überstundenzuschlägen
Sachverhalt
Die beiden Klägerinnen sind als Pflegekräfte in Teilzeit bei der Beklagten, einem Anbieter von Heimdialyse, angestellt. Sie sind gemäß ihren jeweiligen Arbeitsverträgen mit einer Arbeitszeit von 40 % bzw. 80 % der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit einer Vollzeitkraft beschäftigt, welche nach § 10 MTV 38,5 Stunden beträgt.
Für die Stunden, die über die in den Arbeitsverträgen der Klägerinnen vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus gearbeitet wurden, begehrten die Klägerinnen die Zahlung eines Zuschlages oder eine entsprechende Zeitgutschrift.
Die Klägerinnen erhoben daher zunächst bei dem zuständigen Arbeitsgericht Klage auf Erteilung einer Zeitgutschrift gem. § 10 Ziff. 7 MTV, die den ihnen zustehenden Zuschlägen für Überstunden entspricht, sowie auf Zahlung einer Entschädigung nach dem § 15 Abs. 2 AGG. Sie machten geltend, aufgrund ihrer Teilzeitbeschäftigung gegenüber Vollzeitbeschäftigten schlechter behandelt und aufgrund ihres Geschlechts mittelbar diskriminiert worden zu sein, da die Beklagte überwiegend Personen weiblichen Geschlechts in Teilzeit beschäftige. Nach Abweisung dieser Klagen legten sie beim Landesarbeitsgericht Hessen Berufung ein. Dieses verurteilte die Arbeitgeberin dazu, auf den Arbeitszeitkonten der Klägerinnen entsprechende Zeitgutschriften vorzunehmen. Der Antrag auf Zahlung einer Entschädigung wurde hingegen abgewiesen. Hiergegen legten sie wiederum Revision bei dem Bundesarbeitsgericht (BAG) ein.
Das BAG setzte die Entscheidung aus und ersuchte in diesem Zusammenhang die Vorabentscheidung des EuGH zu den Fragen, ob die beiden Klägerinnen als Teilzeitbeschäftigte im Sinne von Paragraf 4 Nr. 1 des Rahmenvereinbarung „schlechter“ behandelt und aufgrund ihres Geschlechts im Sinne von Art. 157 AEUV sowie der Gleichbehandlungsrichtlinie 2006/54 mittelbar diskriminiert werden.
Entscheidung
Als Erstes stellt der EuGH fest, dass eine nationale Regelung eine „schlechtere“ Behandlung von Teilzeitbeschäftigten im Sinne des Paragraf 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung darstellt, wenn darin die Zahlung von Überstundenzuschlägen an Teilzeitbeschäftigte nur für solche Arbeitsstunden vorgesehen ist, welche über die regelmäßige Arbeitszeit von sich in einer vergleichbaren Lage befindenden Vollzeitbeschäftigten hinaus gearbeitet werden.
Hierzu weist er zunächst darauf hin, dass diese Bestimmung nicht restriktiv ausgelegt werden darf, da sie der Anwendung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung auf Teilzeitbeschäftigte diene. Weiter führt er aus, dass im vorliegenden Fall die erbrachten Leistungen der Klägerinnen mit jenen der Vollzeitbeschäftigten vergleichbar seien. Aus den Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich, dass eine teilzeitbeschäftigte Pflegekraft die gleiche Anzahl an Stunden arbeiten muss wie eine vollzeitbeschäftigte Pflegekraft, um erstmals Überstundenzuschläge zu erhalten, und zwar unabhängig von der individuell im Arbeitsvertrag dieser teilzeitbeschäftigten Pflegekraft vereinbarten regelmäßigen Arbeitszeit. Folglich würden teilzeitbeschäftigte Pflegekräfte offensichtlich schlechter behandelt werden als vollzeitbeschäftigte Pflegekräfte.
Weiterhin erörtert der EuGH, ob diese unterschiedliche Behandlung im Sinne von Paragraf 4 Nr. 1 der Rahmenvereinbarung durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt werden kann. Der Begriff „sachlicher Grund“ verlangt, dass die festgestellte unterschiedliche Behandlung durch genau bezeichnete, konkrete Umstände gerechtfertigt ist. Diese Umstände müssen die betreffende Beschäftigungsbedingung in ihrem speziellen Zusammenhang und auf der Grundlage objektiver und transparenter Kriterien kennzeichnen, um sichergehen zu können, dass die unterschiedliche Behandlung einem echten Bedarf entspricht und zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist. Das Ziel, durch Festlegen einer einheitlichen Untergrenze für Vollzeit und Teilzeit hinsichtlich der Gewährung eines Überstundenzuschlags den Arbeitgeber davon abzuhalten, dem Arbeitnehmer Überstunden anzuordnen, welche über ihre individuell vereinbarte Arbeitszeit hinausgehen, stelle keinen solchen sachlichen Grund in Hinblick auf Teilzeitbeschäftigte dar. Was das Ziel betrifft, eine schlechtere Behandlung von Vollzeitbeschäftigten gegenüber Teilzeitbeschäftigten zu verhindern, so würden Vollzeitbeschäftigte in Bezug auf Überstunden auch bei Berücksichtigung der geschuldeten Arbeitszeit unter Anwendung des Pro‑rata-temporis-Grundsatzes im Vergleich zu Teilzeitbeschäftigten nicht schlechter behandelt werden. Dieses zweite Ziel sei folglich ebenfalls nicht geeignet, diese Gleichbehandlung von Teilzeitbeschäftigten und Vollzeitbeschäftigten zu rechtfertigen.
Als Zweites kommt der EuGH zu dem Schluss, dass die in Rede stehende nationale Regelung des MTV zudem eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts im Sinne von Art. 157 AEUV sowie von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2006/54 darstellt.
Obwohl die Maßnahme auf den ersten Blick neutral erscheint, zeigte sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass sie faktisch einen signifikant höheren Anteil von Personen weiblichen Geschlechts (ca. 90 %) im Vergleich zu Personen männlichen Geschlechts (ca. 10 %) der Teilzeitbeschäftigten bei der Beklagten benachteiligt. Diese Betrachtung gilt unabhängig davon, ob die Gruppe der nicht benachteiligten Arbeitnehmer – die Vollzeitbeschäftigten – überwiegend aus Personen männlichen Geschlechts besteht oder nicht. Das nationale Gericht müsse alle relevanten qualitativen Elemente prüfen, um festzustellen, ob eine solche Benachteiligung vorliegt, und dabei sämtliche Arbeitnehmer berücksichtigen, die der nationalen Regelung unterliegen. Diese mittelbare Diskriminierung könne ebenso wenig wie eine ungünstigere Behandlung von Teilzeitbeschäftigten gegenüber Vollzeitbeschäftigten gerechtfertigt werden. Dies gelte insbesondere, wenn das Ziel darin besteht, Arbeitgeber davon abzuhalten, Überstunden anzuordnen, die über die individuell vereinbarte Arbeitszeit hinausgehen, oder zu verhindern, dass Vollzeitbeschäftigte gegenüber Teilzeitbeschäftigten schlechter behandelt werden.
Ausblick
Mit dieser Entscheidung hat das EuGH die Rechte der Teilzeitbeschäftigten erneut gestärkt. Basierend auf dieser Entscheidung hat das BAG sich der Auffassung des EuGH angeschlossen und mit Urteil vom 5. Dezember 2024 (Az.: 8 AZR 370/20) entschieden, dass zum einen ein Anspruch auf die Überstundenzuschläge schon ab der ersten geleisteten Überstunde besteht und den Klägerinnen zum anderen eine Entschädigung in Höhe von EUR 250 für die mittelbare Geschlechterdiskriminierung zugesprochen.
Durch den Zuspruch eines Anspruchs auf Überstundenzuschläge bereits ab der ersten Überstunde sind Arbeitgeber gehalten, soweit sie Zuschläge für Überstunden vorsehen, die Grenze für die Gewährung eines Überstundenzuschlags bei Teilzeitbeschäftigung auch einer Teilzeitquote entsprechende anteilige herabzusenken. Andernfalls droht die Untergrenze für die Zuschläge unwirksam zu sein. Dies gilt selbst dann, wenn es in Tarifverträgen so vorgesehen ist. Die Entschädigung für eine Geschlechterdiskriminierung fällt hingegen nicht besonders hoch aus, da das BAG nur diese Summe für erforderlich hält, um den einer Arbeitnehmerin durch die mittelbare Geschlechtsbenachteiligung entstandenen immateriellen Schaden auszugleichen, aber auch für ausreichend erachtet, um auf den Arbeitgeber eine abschreckende Wirkung zur Folge zu haben.
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