„Sollen oder Müssen - Das ist hier die Frage"
- Inhaltliche Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige verschärft? -
- Inhaltliche Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige verschärft? -
Rechtlicher Hintergrund
Gemäß §17 KSchG haben Arbeitgeber, je nach Betriebsgröße und Anzahl der zu entlassenen Arbeitnehmer, ggf. vor Ausspruch von Kündigungen Anzeige bei der Agentur für Arbeit zu erstatten, die sogenannte „Massenentlassungsanzeige". Das umfassende Formular, das hier auszufüllen ist, ist ein Risiko für viele Fehler – zumal, wenn diese Unterlage „last minute" vor Aussprache von Kündigungen ausgefüllt wird. Dass diesem Formular künftig noch mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muss, ist Folge dieser Entscheidung des LAG Hessen.
Unterlässt der Arbeitgeber die Anzeige, obwohl ihn eine entsprechende Pflicht trifft, ist eine daraufhin ausgesprochene Kündigung gem. §§134 BGB, 17 KSchG unwirksam. Dies kann überdies auch der Fall sein, wenn die Anzeige durch den Arbeitgeber nicht ordnungsgemäß erfolgt, z.B. weil die inhaltlichen Anforderungen an die Anzeige nicht erfüllt werden, Angaben also fehlerhaft sind oder gänzlich fehlen. Darüber besteht Einigkeit. Allerdings konnte zumindest bisher die folgende Besonderheit Berücksichtigung finden: die Differenzierung zwischen „Muss" und „Soll".
Die Anzeige „muss" nach §17 Abs. 3 S.4 KSchG Angaben über den Namen des Arbeitgebers, den Sitz und die Art des Betriebes enthalten, ferner die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. Gemäß §17 Abs. 3 S.5 „soll" die Anzeige außerdem Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer machen. Hier scheint eine unterschiedliche Qualität von „Muss" und „Soll" angelegt zu sein. Was gilt, wenn eine Soll-Angabe fehlt oder fehlerhaft ist, bzw. nach Abgabe der Anzeige erfolgt? Verpflichtend scheint die Soll-Angabe nach dem Wortlaut nicht zu sein. Diese Frage war Gegenstand der hier besprochenen Entscheidung des LAG Hessen, die nun zu einer Veränderung der bisher geltenden Anforderungen an die Vollständigkeit einer solchen Anzeige führen kann.
Sachverhalt
Die beklagte Arbeitgeberin sprach im Zeitraum zwischen dem 18. Juni 2019 und dem 18. Juli 2019 gegenüber 17 von in der Regel 21 im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmern eine betriebsbedingte Kündigung aus. Die Beklagte erstattete wohl – das Gericht traf hierzu keine Feststellung – am 18. Juni 2019 gegenüber der Agentur für Arbeit die Massenentlassungsanzeige, welche die gem. §17 Abs. 3 S.4 KSchG erforderlichen Muss-Angaben enthielt. Am Tag darauf gingen, auch dem schließlich klagendem Arbeitnehmer, die Kündigungsschreiben zu. Am 23. Juli 2019, also nach Einreichen der Anzeige mit den Muss-Angaben und Aussprache aller Kündigungen, hat die Arbeitgeberin schließlich die sogenannten Soll-Angaben nach §17 Abs.3 S.5 KSchG an die Agentur für Arbeit übersandt.
Die Entscheidung
Das LAG Hessen, genau wie das Arbeitsgericht Frankfurt zuvor, befanden die Kündigung auf Grund der fehlenden Soll-Angaben in der Massenentlassungsanzeige als unwirksam und gaben der Klage dementsprechend statt. Diese Entscheidung sorgt für ein gewisses Aufsehen, da sie von bisheriger Praxis und Rechtsprechung abweicht, aber auch von der Praxis der Agentur für Arbeit. Deren Formular weist zudem ausdrücklich darauf hin, dass diese Angaben auch nachgeholt werden können.
In seiner Argumentation stützt sich das LAG im Wesentlichen auf eine europarechtskonforme Auslegung des §17 KSchG. Diese Regelung diene der Umsetzung der Massenentlassungsrichtlinie (Richtlinie 98/59/EG „MERL"). Art. 3 I Abs. 3 MERL verlange die Mitteilung aller „zweckdienlichen Angaben" in der Anzeige. Die in § 17 Abs.3 S.5 KSchG genannten Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer seien „zweckdienlich" in diesem Sinne. Durch die Anzeige solle die zuständige Behörde rechtzeitig über eine bevorstehende Massenentlassung unterrichtet werden, um sich auf die Entlassung einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern vorbereiten und ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen zu können.
Für eine effektive Umsetzung des Unionsrechts und unter Berücksichtigung von Art. 6 MERL sei es im Ergebnis erforderlich, Verstöße gegen die Anzeigepflichten zu sanktionieren. Die Differenzierung aus dem gesetzlichen Wortlaut zwischen den Muss-Angaben und Soll-Angaben führe im Ergebnis nicht zu einer Differenzierung bei den Fehlerfolgen. Die Unterscheidung trüge allein dem Umstand Rechnung, dass dem Arbeitgeber die Soll-Angaben – anders als die Muss-Angaben – nicht zwingend bekannt sind (z.B. die Nationalität der Arbeitnehmer). Das LAG Hessen geht hier so weit, den Arbeitgebern auch Nachforschungen zuzumuten. Nur soweit dem Arbeitgeber die Mitteilung der Angaben nicht möglich sei, würde die Unvollständigkeit der Anzeige bzgl. der Soll-Angaben nicht zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen. Dieser Auslegung stünde auch der Wille des Gesetzgebers nicht entgegen.
Das Gericht weist ausdrücklich darauf hin, dass hier auch anderslautende Hinweise der Agentur für Arbeit bzgl. der Soll-Angaben nicht für die Gerichte maßgeblich sind, auch nicht ein „Vertrauensschutz" bzgl. bisheriger Praxis in der Frage.
Praxishinweis
Die Entscheidung des LAG Hessen ist noch nicht rechtskräftig. Die Revision ist zur Zeit beim Bundesarbeitsgericht (BAG) anhängig, da diese Entscheidung grundsätzliche Bedeutung hat.
Bis das BAG abschließend über die Sache entscheidet, schafft das Urteil allerdings ein erhebliches Maß an Rechtsunsicherheit. Für Arbeitgeber bedeutet die Entscheidung jedenfalls vorläufig, dass im Massenentlassungsanzeigeverfahren stets auch die Soll-Angaben vollständig mitgeteilt werden sollten, um nicht die Unvollständigkeit der Anzeige zu riskieren. Dies kann nur unterbleiben, wenn die Informationen nicht zu beschaffen sind. Nicht verlassen sollte man sich im Anzeigeverfahren hingegen auf die Angaben in ggf. von der Arbeitsagentur bereitgestellten Merkblättern. Selbst eine ausdrückliche Bestätigung der Agentur, dass die Angaben vollständig waren, kann die unvollständige Anzeige in einem späteren Prozess nicht heilen. Auch dies hat das LAG Hessen in seinem Urteil nochmals ausdrücklich bekräftigt.
Wie das BAG in der Revision entscheiden wird, ist kaum vorherzusagen. Es ist auch nicht völlig ausgeschlossen, dass das BAG dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorlegen wird. Sollte dies der Fall sein, wird wohl noch über einen längeren Zeitraum Unklarheit herrschen, ob „soll" an sich als „muss" zu verstehen ist. Wieder einmal zeigt sich jedoch, dass die Auslegung von Bestimmungen, die auf europarechtlichen Vorgaben beruhen, wie insbesondere Richtlinien, Besonderheiten unterliegt. So wäre §17 KSchG nicht das erste Mal Gegenstand einer europarechtlichen Auslegung, die von einer herkömmlichen, rein sprachlichen Auslegung abweicht. Erinnert sei daran, dass als Arbeitnehmer im Sinne des §17 KSchG auch der Geschäftsführer zählt – anders als im reinen nationalen Arbeitsrecht.
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