Wann ist Arbeitnehmerüberlassung „vorübergehend"?
Rechtlicher Hintergrund
In der heutigen Arbeitswelt ist es üblich – besonders in bestimmten Branchen – den Bedarf an Arbeitskräften teilweise durch den Einsatz von Leiharbeitnehmern zu decken. Diese Arbeitnehmer werden von Zeitarbeitsfirmen beschäftigt und von Entleihern über einen gewissen Zeitraum in den eigenen Unternehmen eingesetzt. Ein Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher kommt dabei grundsätzlich nicht zustande. Einen angemessen Umgang mit dieser Form der Beschäftigung soll in Deutschland das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) sicherstellen. Das AÜG sieht vor, dass eine „vorübergehende" Überlassung eines Arbeitnehmers an einen Entleiher zulässig ist. Das Gesetz in seiner heutigen Fassung sieht als Überlassungshöchstdauer „18 aufeinanderfolgenden Monate" vor, welche jedoch durch Tarifvertrag verlängert werden kann. Im Falle einer in zeitlicher Hinsicht unzulässigen Arbeitnehmerüberlassung sieht das Gesetz vor, dass es zu einem Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer kommt. Zu diesem Zweck enthält das AÜG eine Übergangsvorschrift, nach der Überlassungszeiten vor dem 1. April 2017 bei der Berechnung der Überlassungshöchstdauer nicht berücksichtigt werden. Im Rahmen der Auslegung des AÜG treten vielfach Unsicherheiten auf, die aufgrund des europarechtlichen Hintergrunds der Bestimmung durch das EuGH zu klären sind.
Entscheidende Bedeutung im Rahmen des Umgangs mit Arbeitnehmerüberlassung kommt auch der Auslegung der Richtlinie 2008/104 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. November 2008 über Leiharbeit zu. Ziel dieser Richtlinie ist es, für den Schutz der Leiharbeitnehmer zu sorgen und die Qualität der Leiharbeit zu verbessern, indem die Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gesichert wird und die Leiharbeitsunternehmen als Arbeitgeber anerkannt werden.
Sachverhalt
Der Kläger war seit dem 1. September 2014 ausschließlich an ein Entleihunternehmen der Automobilbranche überlassen, der ihn in der Motorenfertigung in Berlin für eine Dauer von 55 Monaten einsetzte. Unterbrochen wurde der Einsatz des Leiharbeitnehmers nur durch eine zweimonatige Elternzeit. Das Entleihunternehmen nutzte diese Stelle nicht zur Vertretung eines ausgefallenen Arbeitnehmers. Im Entleihunternehmen gilt der Tarifvertrag Leih-/Zeitarbeit (TV LeiZ) für die Metall und Elektroindustrie. Dieser Tarifvertrag sieht die Möglichkeit der Verlängerung der gesetzlichen Überlassungshöchstdauer auf maximal 48 Monate vor.
Der Kläger begehrte vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (LAG) die Feststellung des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses mit dem Entleihunternehmen. Diesen Antrag begründete er damit, dass seine Überlassung als Leiharbeitnehmer an den Entleiher aufgrund der Dauer von 55 Monaten nicht mehr als „vorübergehend" gelten könne und dass die Übergangsvorschrift – nach der Vorbeschäftigungszeiten vor dem 1. April 2017 nicht berücksichtigt werden – gegen Unionsrecht verstoße. In der vorherigen Instanz hatte das Arbeitsgericht Berlin die Klage abgewiesen. Das LAG als Berufungsgericht entschied mehrere Fragen im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerüberlassung dem EuGH vorzulegen. Das LAG führt dabei aus, das nationale Recht, mit dem die Richtlinie 2008/104/EG umgesetzt werde, habe zwar von Anfang an vorgesehen, dass die Überlassung von Arbeitnehmern nur „vorübergehend" erfolgen könne, doch sei eine maximale Überlassungsdauer erst ab dem 1. April 2017 in das nationale Recht eingeführt worden, die auf 18 Monate festgelegt worden sei.
Im Rahmen der Vorlage an den EuGH wollte das LAG zunächst wissen, ob Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2008/104 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „vorübergehend" einer Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen entgegensteht, wenn die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und nicht vertretungsweise besetzt ist. Des Weiteren wurde angefragt, ob die Dauer der Überlassung bei 55 Monaten noch als „vorübergehend" eingestuft werden kann.
Die Entscheidung
Grundlage der Entscheidung war die Auslegung der Richtlinie 2008/104 EG durch den EuGH. Im Hinblick auf die Auslegung von Artikel 1 Abs. 1 der Richtlinie, entschied das Gericht, dass eine Überlassung auch dann „vorübergehend" im Sinne der Richtlinie sein kann, wenn der Leiharbeitnehmer auf einem Arbeitsplatz beschäftigt wird, der dauerhaft vorhanden ist und nicht nur vertretungsweise besetzt wird. Das Gericht stellt in der Entscheidung damit klar, dass sich „vorübergehend" auf den Arbeitnehmer und nicht auf den Arbeitsplatz bezieht.
Bezüglich der zweiten Frage, ob eine Dauer von 55 Monaten noch „vorübergehend" im Sinne der Richtlinie ist, blieb der EuGH eine konkrete Antwort schuldig. Der EuGH stellte hier fest, dass es Aufgabe der nationalen Gerichte wäre, die Dauer zu beurteilen. Grundsätzlich führte das Gericht aus, dass die Richtlinie nicht darauf abziele, eine Dauer für die Überschreitung der „vorübergehenden" Überlassung festzulegen. Weder enthalte die Richtlinie 2008/104/EG eine Angabe zu einer Höchstdauer noch verpflichte sie die Mitgliedsstaaten, eine solche Höchstdauer für die Überlassung festzulegen. Eine Überlassung von insgesamt 55 Monaten an einen Entleiher könne grundsätzlich noch zulässig sein. Ein missbräuchlicher Einsatz läge vor, wenn aufeinanderfolgende Überlassungen eines Leiharbeitnehmers auf demselben Arbeitsplatz unter Berücksichtigung aller relevanter Umstände – hier müssen insbesondere Branchenbesonderheiten beachtet werden – zu einer Beschäftigungsdauer bei diesem Unternehmen führen, die länger sind als das, was im Kontext des nationalen Regelungsrahmens vernünftigerweise als „vorübergehend" betrachtet werden kann. Die in § 1 Abs. 1 b Satz 1 AÜG festgelegte Grenze von 18 Monaten als Höchstüberlassungsdauer sei jedenfalls nicht europarechtswidrig.
Die Frage nach der Wirksamkeit der Nichtbeachtung von Zeiträumen vor dem 1. April 2017 beantwortete das Gericht dahingehend, dass es den Mitgliedstaaten selbst überlassen sei, Übergangsvorschriften zu erlassen. Hierbei wurde berücksichtigt, dass die nationale Umsetzung der Richtlinie erst sechs Jahre nach dem Zeitpunkt erfolgte, zu dem die Richtlinie umzusetzen war. Allerdings könnten im Einzelfall auch Überlassungszeiten vor dem 1. April 2017 zu berücksichtigen sein.
Praxishinweise
Die Entscheidung wird vor allem bei Entleihunternehmen und deren Kunden auf großes Interesse stoßen. Zwar bleibt der Begriff der „vorübergehenden" Überlassung auch nach der Entscheidung des EuGH aus europarechtlicher Hinsicht weiterhin in seiner Höhe unbestimmt. In Bezug auf die tatsächliche Beantwortung der Frage, wann eine Überlassungsdauer im Sinne des Art. 1 Abs.1 der Richtlinie 2008/104/EG vom 19. November 2008 „vorübergehend" ist, hat der EuGH den Ball an die nationalen Gerichte zurückgespielt, bzw. auch dem nationalen Gesetzgeber Gestaltungsmöglichkeiten gegeben. Diese sollen im Einzelfall prüfen, ob die Überlassungsdauer vorübergehend im Sinne der Vorschrift ist, was insbesondere Vorbeschäftigungszeiten vor dem 1. April 2017 anbelangt. Bei neuen Verträgen dürfte strikt auf die gesetzliche bzw. tarifvertraglichen Zeitrahmen abzustellen sein. Klarheit schafft das Gericht hingegen bezüglich der Vergabe von dauerhaft bestehenden Arbeitsplätzen an Leiharbeitnehmern. Aufgrund der arbeitnehmerbezogenen Betrachtung des Begriffes „vorübergehend" können auf einem solchen Arbeitsplatz nacheinander verschiedene Leiharbeitnehmer beschäftigt werden.
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